Nordirland im Fokus

Der Brexit hat die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf Irland gelenkt, weil er die Gefahr birgt, dass die neue EU-Aussengrenze mitten durch Irland geht. Aber viele Analysen greifen zu kurz.  Um zu verstehen, was die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, die sich kurvenreich über 500 km erstreckt, für die Menschen in Irland bedeutet, muss  man einen Blick auf die jüngere und ältere Vergangenheit werfen.

Seit die britische Premierministerin Theresa May bei den Wahlen im Juni 2017 ihre absolute Mehrheit verloren hat und die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) sucht, lenkt sich der Blick der Medien weltweit wieder auf Nordirland, auf die DUP, ihre Parteichefin Arlene Foster und den nordirischen Friedensprozess.

Ist Großbritannien „unabhängiger Moderator“ im Friedensprozess in Nordirland?

Das Friedensabkommen in Nordirland
Mai 1998, Aufruf zur Abstimmung über das nordirische Friedensabkommen vom April 1998

Die Gefahr, die eine neue „harte“ Grenze für den nordirischen Friedensprozess darstellt, ist Thema, jedoch wird dies meist damit begründet, dass die britische Regierung ihre Rolle als unabhängige Moderatorin, die zwischen den nordirischen Konfliktparteien vermittelt, verlieren könnte. Das ist weit zu kurz gegriffen. Denn Großbritannien war in diesem Konflikt noch nie unabhängig. Ganz im Gegenteil. Eben jenes britische Parlament, bei dessen Wahl Theresa May im Juni 2017 ihre Mehrheit verspielte, spaltete 1920  Nordirland zwangsweise von Irland ab. Nicht nur, ohne die Iren zu fragen, sondern gegen eine überwältigende Mehrheit der irischen Bevölkerung, die ihre Insel selbständig und als Ganzes regieren wollte.

Seither ist viel Zeit vergangen, aber der Nordirlandkonflikt ist ohne die erzwungene Schaffung eines Kunststaates Nordirland und ohne eine über 50-jährige Alleinherrschaft der anti-irischen und anti-katholischen Unionist Party nicht denkbar. Die DUP gründete sich 1971, weil dem fundamentalistischen Gründer der Free Presbyterian Church (Freie Presbyterianische Kirche) Ian Paisley die reaktionäre Ulster Unionist Party zu weich erschien. Der sozialdemokratische Journalist Brian Feeney nennt den aktuellen Nordirlandminister der britischen Regierung James Brokenshire spöttisch „unseren Kolonialverwalter“. Das stimmt zumindest seit dem Friedensabkommen nicht mehr vollständig, aber noch immer liegt beispielsweise die Finanzhohheit über Nordirland bei der britischen Regierung und nicht etwa bei der nordirischen Regionalregierung. Man sollte auch erwähnen, dass Brokenshire wie die vielen Nordirlandminister und –ministerinnen vor ihm einzig und allein von London ernannt wurde.

Ein Blick in die Geschichte

Der Nordirlandkonflikt entzündete sich an der Drangsalierung und Entrechtung, die katholische Iren im „protestantischen“ Nordirland erfahren mussten. Gleiches Wahlrecht, anständige Wohnungen und Arbeit waren die Forderungen der massiven Bürgerrechtsbewegung Ende der 1968er, deren Demonstrationen zuerst von pro-britischen Schlägertrupps und der nordirischen Polizei mit Knüppeln auseinandergetrieben wurde. Später kam die britische Armee. Jeder Journalist, der von Großbritannien als neutralem Moderator des Konflikts berichtet, sollte in Derry mit Angehörigen der Opfer des „Bloody Sunday“ (Blutsonntag) reden, des 30. Januar 1972. Vierzehn unbewaffnete Demonstranten überlebten den Angriff des britischen Fallschirmjägerregiments 1-Para auf eine friedliche Bürgerrechts-Großdemonstration nicht. Im Hinblick auf die Diskussion über „Neutralität der britischen Regierung“ ist dabei anzumerken, dass es Jahrzehnte eines hartnäckigen Kampfes der Bürger/innen von Derry brauchte, bis die Wahrheit endlich ans Licht kam und sich der ehemalige britische Regierungschef Cameron für Mord und Lügen entschuldigen musste. Viele ähnliche Taten der britischen Armee sind immer noch ungesühnt, viele andere Kampagnengruppen ringen ebenfalls seit Jahrzehnten um Aufklärung über die Ermordung ihrer Angehörigen durch britische Armee oder durch die Zusammenarbeit britischer Geheimdienste mit loyalistischen, pro-britischen Todesschwadronen, die mit Waffen und Informationen versorgt wurden, um Zivilisten und unbequeme Menschenrechtsanwälte, wie z.B. den Anwalt Pat Finucane, zu ermorden.

Krise des nordirischen Friedensprozesses

Eine Aufklärung dieser Fälle ist im Friedensvertrag von 1998 und verschiedensten Folgeverträgen vereinbart, wird aber von der britischen Regierung und der DUP seit Jahren hintertrieben. Die britische Regierung erließ sogar ein spezielles Gesetz, die „Lex Finucane“, um im Falle der Ermordung von Pat Finucane und anderer ähnlicher Fälle interne Regierungsdokumente nicht veröffentlichen zu müssen.  All das macht die aktuelle Kungelei der Tories mit der DUP so gefährlich. Beide haben kein Interesse daran, die im Friedensvertrag von 1998 vereinbarten Schritte zur Demokratisierung Nordirlands umzusetzen. Das beinhaltet nicht nur die Aufarbeitung des Konflikts, sondern auch Gleichberechtigung der verschiedenen Identitäten und Nationalitäten, die in Nordirland leben. Beispiele hierfür sind die Schaffung neutraler öffentlicher Räume ohne pro-britische Dominanz und die Gleichberechtigung der irischen Sprache.

Die Krise der nordirischen Regierung ist deshalb auch nicht einfach ein Streit zwischen der gesamtirischen Linkspartei Sinn Féin (SF) und der DUP. Sie dreht sich um die Umsetzung aller Vereinbarungen des Friedensvertrags, nicht nur von der DUP genehmen Themen. Die im Friedensvertrag von 1998 vorgesehene Regionalregierung kam erst 2007 unter Führung von Ian Paisley (DUP) und McGuinness (SF) an den Start. Das lag vor allem an der Weigerung der DUP, mit SF eine Regierung zu bilden. Arlene Foster war bis Januar 2017 Regierungschefin Nordirlands, gemeinsam mit dem kürzlich verstorbenen Martin McGuinness. Der Tropfen, der in der aktuellen Krise das Fass zum Überlaufen brachte und zum vorläufigen Ende der Regionalregierung führte, war ein umstrittenes Förderprogramm, das Arlene Foster in ihrer Zeit als Wirtschaftsministerin auf den Weg brachte. Es lief aus dem Ruder und wird über Jahre hinaus jährlich wohl mehr als 20 Millionen Euro verschlingen. Viele der Profiteure kommen aus dem Umfeld der DUP. Rücktrittsforderungen waren Anfang des Jahres laut geworden, weil der Verdacht auf Korruption im Raum steht. Weil die Regierungschefin sich weigerte, zurückzutreten, tat dies Martin McGuinness im Januar dieses Jahres und erzwang damit auch den Rücktritt der DUP-Chefin. Denn die nordirische Regierung muss nach den Vereinbarungen im Friedensvertrag von 1998 aus pro-britischen und irischen Kräften gemeinsam gebildet werden.

Die pro-britische Mehrheit in Nordirland schwindet

Neuwahlen Anfang März 2017 waren die Folge. Zwar blieb die DUP stärkste Partei, aber ihr Vorsprung vor SF schmolz auf knapp 1000 Stimmen zusammen, auf 29,1% gegen 28,9%. Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands gab es trotz dieses kleinen Vorsprungs der DUP keine Mehrheit des pro-britischen Lagers. Für die protestantisches Fundamentalisten und pro-britischen Hardliner, von denen es in der DUP immer noch sehr viele gibt, ist eine Gleichstellung oder gar Mehrheit des irischen progressiven Lagers politisch und ideologisch ein Horrorszenario. Übrigens ist SF keine „katholische Partei“, wie oft zu lesen ist. Sie versteht sich als irisch-republikanisch und beruft sich auf Gründer dieser Bewegung, wie z.B. Wolfe Tone, die allesamt progressive Protestanten waren und in ihrer Bewegung Katholiken, Protestanten und Atheisten vereinten.

Auf eine Regierung konnten sich die nordirischen Parteien bisher noch nicht einigen. Unter anderem liegt das an der Personalie Foster, die sich nach wie vor weigert, bis zur Klärung der Korruptionsvorwürfe auf das Amt der Regierungschefin zu verzichten. Es wirkt wie ein schlechter Witz, dass sie nun als Mehrheitsbeschafferin für die britischen Torys im Rampenlicht steht.

Bei den aktuellen Wahlen zum britischen Unterhaus gingen die DUP im pro-britischen Lager mit 36% der Stimmen und 10 Sitzen, sowie Sinn Féin (SF) im irischen Lager mit 29,4% und sieben Sitzen als deutliche Gewinner hervor. Bis auf ein Mandat in North Down, das an eine gemäßigte pro-britische Unabhängige ging, teilen sich DUP und SF die Sitze. SF konnte neben traumhaften Ergebnissen in ihren Hochburgen, wie z.B. 66,7% der Stimmen für den SF Kandidaten Paul Maskey in West Belfast, zusätzliche drei Sitze gewinnen, darunter zum ersten Mal Derry, den Stammsitz der sozialdemokratischen Partei SDLP. Der Wahlsieg von SF verdient besondere Beachtung. Denn die Partei nimmt ihre Sitze im britischen Unterhaus nicht ein. Warum sollte also jemand bei den Wahlen zum britischen Unterhaus eine irisch-republikanische Linkspartei wählen, die im britischen Parlament keine Stimme hat?

„Kein Brexit, keine Grenze, kein Tory-Sozialabbau“

Bei dieser Wahl, die SF unter dem Slogan „Kein Brexit, keine Grenze, kein Tory-Sozialabbau“ führte, haben die Wähler deutlich gezeigt, dass sie sich von Sitzen in Westminster nichts erhoffen, sondern auf ein Ende der britischen Einflussnahme in Irland setzen. Es war ein Votum für Veränderung, gegen die drohende innerirische Grenze, die als Folge des Brexit die EU-Außengrenze mitten durch die irische Insel verlaufen lässt. In großer Zahl folgt die Bevölkerung dem Aufruf von Sinn Féin, aufzustehen, sich einzubringen und aktiv für den Weg zur Wiedervereinigung Irlands einzutreten. In den irischen Vierteln Nordirlands haben viele verstanden, dass die Bedrohung durch den Brexit jetzt eine Chance ist, ein Vereinigtes Irland auf die Tagesordnung zu setzen. Die Stimmung ist selbstbewusst und kämpferisch. Schon vor dem Brexit Referendum organisierte Sinn Féin im ganzen Land sogenannte „Townhall Meetings“, um über den Weg zu einem vereinigten Irland zu diskutieren und darüber, wie denn das neue Irland aussehen soll. Sinn Féin will die Zivilgesellschaft zur treibenden Kraft machen, um für eine gerechte und soziale Gesellschaft zu mobilisieren. Ich hatte im Mai dieses Jahres im Rahmen des Partizan Travel Reiseprojekts (http://www.partizantravel.com/de ) die Gelegenheit, gemeinsam mit meiner Reisegruppe ein Gespräch mit dem Westminster-Abgeordneten von SF für West Belfast, Paul Maskey, zu führen. Er erklärte uns, dass Sinn Féin in der aktuellen Diskussion um den Brexit für einen Sonderstatus Nordirlands innerhalb der EU wirbt. Damit wäre eine innerirische EU-Außengrenze zuerst einmal verhindert. Sinn Féin will dann in den folgenden Jahren die Bedingung für ein Referendum zur Vereinigung Irlands schaffen. Ein solches Referendum ist im Friedensvertrag explizit vorgesehen, wenn ein großer Teil der Bevölkerung dies wünscht.

Dabei könnte auch die Front der nordirischen Unionisten ins Wanken kommen. Denn der Brexit bedroht in Nordirland beispielsweise auch die Existenz der mehrheitlich pro-britischen Farmer an Nordirlands Ostküste, die EU Subventionen und den Handel mit der Republik Irland dringend benötigen. Die britische Regierung hat bereits klar gemacht, dass sie EU-Subventionen für Nordirland nicht einfach übernimmt. Die Tories haben in den vergangenen Jahren auch bereits zugesagte Budgets erneut gekürzt. Ein noch massiverer Sozialabbau konnte bisher nur durch eine engagierte Kampagne von SF verhindert werden.

Im vergangenen Herbst verfassten Arlene Foster und Martin McGuinness gemeinsam einen Brief an Theresa May, um ihr Mitspracherecht bei den Brexit-Verhandlungen einzufordern. Die Antwort war kaltschnäuzige arrogante Missachtung. Für die DUP ist das eine Zwickmühle. Als Mehrheitsbeschafferin für die Tories kann sie sich ihren Wählern gegenüber jetzt als einflussreiche Gestalterin im britischen Parlament verkaufen. Das klappt aber nur, wenn sie auch im eigenen Land Erfolge vorweist. Ob die DUP einer geschwächten Theresa May zusätzliche Gelder für ihr Clientel abringen kann, ist fraglich.


Fotos:

Titelfoto: Belfaster Rathaus bei Nacht, Sept. 2016. Auch hier gibt es die pro-britische Dominanz nicht mehr. Es fehlt der Unionjack auf dem Dach des Rathauses, der dort zuvor Dauerpräsenz hatte.

Links: „Es ist Deine Entscheidung“. Das Poster wirbt in beiden Teilen Irlands für ein JA im Referendum über das Friedensabkommen von 1998. Swohl in Nordirland wie auch in der Republik Irland stimmt die absolute Mehrheit der  Bevölkerung für das Abkommen.

Siehe auch den Schwerpunkt auf info-nordirland.de: Der irische Friedensprozess >>